Konzertarchiv
SCHANDMAUL
Von liebenden und rockenden Feen
Wie ein sanfter Schleier umspielt der dichte, wallende Nebel seinen Leib, taucht die Bäume, Büsche und Sträucher um ihn herum in ein mystisches Gewand. Schritt für Schritt entfernt er sich vom „Drachentöter“, dem letzten Gasthaus dieser Region, in dem man ihn vor diesem Teil des Waldes gewarnt hatte. Dennoch schreitet er ohne Furcht den schmalen, moosbewachsenen Pfad hinab, als es ihm mit einem Male erscheint, als höre er leises Fiedeln in der Ferne. Von Neugier getrieben folgt er den lieblichen Klängen, zu denen sich bald noch das Spiel einer Flöte hinzugesellt, und es scheint ihm, als könne er einen feenhaften Gesang vernehmen, der sein Herz mit Sehnsucht und Liebe erfüllt. Als ein gespenstischer Luftzug den grauen Dunst vor seinen Augen verweht, taucht ein alter, einsamer Turm vor ihm auf, der aus einem blütenübersäten Sumpf in den Himmel hinaufragt ...
In diesem Moment erstrahlen die Bühnenlichter, Schlagzeug und E-Gitarre verwandeln die elfische Ruhe in einen groovenden Rocksong, und in dem Augenblick, wenn Thomas’ Stimme erschallt, ist man als Wanderer auf einem Schandmaul-Konzert oder in einem ihrer Lieder angekommen.
Wie keine andere Band verbinden die zwei Damen und ihre vier Herren Neuzeit und Historie, Phantasie und Realität zu einem atemberaubenden Ganzen. Ihre Musik erzählt von Sagen und Mythen, von Drachentötern und Tyrannen, von Geisterschiffen und heidnischen Ritualen - doch zu jedem Zeitpunkt schwingen zwei Konstanten in den schandmaulschen Songs mit: Liebe und das breite Grinsen eines Harlekins, denn Gefühl und Humor machen die Seele all ihrer Erzählungen und Kompositionen aus. Immer wieder luken aus den scheinbar alten Märchen zeitgenössische Gedanken und Sichtweisen hervor und verbinden die fiktive Welt mit dem Jetzt.
Musikalisch beschreitet man einen ähnlich janusartigen Weg, indem man verspielten Folk und groovenden Rock mit einem feinfühligen Gespür für ohrwurmartige Refrains und tragenden Melodien verwebt. Das Ergebnis ist ein stilistisch vielfältiges, farbenfrohes Klangmosaik, das Moderne und Vergangenheit genügend Freiraum einräumt, der von der Instrumentierung virtuos ausgefüllt wird. Denn das Sextett überrascht seine Hörer mit einem breiten Sortiment an Instrumenten aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte. Mit Martin Duckstein, Matthias Richter und Stefan Brunner steht das moderne Rockbesteck, bestehend aus Strom-Gitarre, Bass und Schlagzeug, zur Stelle, während die beiden Damen Birgit Muggenthaler und Anna Kränzlein wörtlich den Bogen zur Historie spannen: mit Geige, Drehleier, Flöte, Dudelsack und Schalmei. Und in der Mitte all derer erklingt Thomas Lindner mit seinem vielfältigen Gesang, einer Akustik-Gitarre und dem Akkordeon.
Dieses mannigfaltige Klangbild, in Verbindung mit den vielgestaltigen Lyrics, machte die Kombo schon mit ihrer ersten Platte „Wahre Helden“ (1999) zu einem unverwechselbaren Sinnerlebnis - Schandmaul war vom ersten gespielten Ton an ein eigener, innovativer Stil. Mit „Von Spitzbuben und anderen Halunken“ (2000) und „Narrenkönig“ (2002) bauten die sechs Münchner ihre Schreibart weiter aus und sammelten auf zahlreichen Tourneen und Festivals Eindrücke und Erfahrung. Schnell spielte man sich von den kleinen Bühnen zur Spitze der Festspiele hinauf, wobei sich die musikalische Bandbreite der Truppe durch die unterschiedlichen Auftrittsorte offenbart, denn von den härtesten Metal-Meetings, zu den romantisch-verträumten Mittelalterfesten, bis hin zu den finsteren Bühnen der Gothic-Szene war Schandmaul überall zu sehen und brachte jegliches Publikum zum Toben, wie der „Hexenkessel“ (2003) in Bild und Ton anschaulich beweist.
Auch dieses Jahr werden die sechs Schandmäuler wieder auf den großen Festival-Podesten zu hören und zu sehen sein: Summerbreeze, M’Era Luna, Wacken, Castle Rock, Zillo, Taubertal und zahlreiche Feuertanzfestivals auf Burgen, um nur einige zu nennen.
Mit dabei haben sie ihr neustes Werk „Wie Pech und Schwefel“, das für die Band mehr als nur eine gewöhnliche CD ist. „Der Titel der Scheibe ist nicht einfach nur ein Titel, sondern er steht für die wunderschöne Zeit, die wir zusammen seit dem Narrenkönig hatten, eine Zeit in der wir als Band einfach zusammengewachsen sind.“ Diese Harmonie und Freude scheint sich direkt in den 15 Songs der Scheibe niedergeschlagen zu haben, denn wie nie zuvor scheint diese Veröffentlichung aus einem einzigen Holz geschnitzt. Zur gleichen Zeit erklingen die Arrangements vielfältiger und ausdrucksvoller, stellenweise direkter und geordneter, was einerseits an Produzent Thomas Heimann-Trosien liegt, der schon bei der „Narrenkönig“ die Regler in den Händen hatte, andererseits an dem erweiterten Komponisten-Kreis: auch Basser Matthias steuerte Kompositionen bei, ebenso wie Geigerin Anna neuerdings die Feder sprechen lies. Neu ist auch der gefühlvolle Einsatz eines Streicher-Kammerorchesters in „Kalte Spuren“, das die Wehmut des Stückes dezent unterstreicht. In schandmaulscher Manier stehen solch ruhigen Tönen mit „Leb“ treibende Rhythmen und kraftvolle Laute gegenüber, während das instrumentale „Folk You“ schallende Lebensfreude ausstrahlt. Gerade dieses Wechselspiel der Emotionen und Klänge macht auch „Wie Pech und Schwefel“ zu einer einzigartigen, abwechslungsreichen Reise.
Peter Sailer