Konzertarchiv
Tocotronic
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70173 Stuttgart
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Liebe Freundinnen und Freunde des Hauses TOCOTRONIC, liebe Hörerinnen und Hörer, nachdem wir anno 2010 unsere Berlin-Trilogie, bestehend aus „Pure Vernunft darf niemals siegen“, „Kapitulation“ sowie „Schall und Wahn“ für beendet erklärt und überdies landauf, landab konzertiert hatten, riefen wir für 2011 den Sabbat aus. Kurzum: Wir verschwanden von der Bildfläche und verkrümelten uns. In aller Stille und unter dem Deckmantel des Müßiggangs sammelten wir jedoch bereits frühzeitig Ideen, Skizzen, Strukturen und Spuren für neue Lieder. Im Sommer 2011 reifte bei uns und unserem langjährigen Freund und Produzenten Moses Schneider der Plan für ein Album unter völlig veränderten Vorzeichen. Moses Schneider hatte in Erfahrung gebracht, dass sich das, im ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin ansässige, Candy BomberStudio im Besitz einer analogen Telefunken-T9-Vier-Spur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958 befände. War es das erklärte Ziel der Berlin-Trilogie, den Minimalismus, die destruktive Rohheit der Tocotronischen Spielweise und alle erdenklichen Saalschlachten zum Schallen zu bringen, schwebte uns angesichts dieser Entdeckung eine andere, ungleich artifiziellere Soundarchitektur vor: Wir wollten ein Album mit einer Technik aufnehmen, die zuletzt in den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Einsatz kam und fanden in dem Toningenieur und Candy-Bomber-Betreiber Ingo Krauss einen kongenialen Partner für die Umsetzung unserer Visionen. So checkten wir im Juni 2012 im Flughafen ein und hoben ab. Die Bandmaschine glühte, die Vorverstärker summten und das Mischpult vibrierte. Als erklärter Dub-Reggae-Fan konnte Ingo Krauss unsere und Moses Schneiders Vorstellungen einer Klangästhetik, die maßgeblich von Hall und Echo, von Verwaschungen und Unschärfen definiert war, glänzend nachvollziehen und in nur 10 Tagen waren wir in der Lage, 17 Lieder aufzunehmen. Unser langjähriger Komplize, der schwedische Meistermixer Michael Ilbert, verhalf darüber hinaus unseren Kompositionen zu noch mehr Eleganz und Glamour. Zuletzt gesellten sich neue und alte WeggefährtInnen zu uns: Aus New York kam die Theremin-Virtuosin Dorit Chrysler, aus Hamburg das verrückte Paar von JaKönigJa, Ebba Durstewitz und Jakobus Siebels mit wunderbaren Bläserarrangements und in Berlin sangen unsere ewig jungen Freundinnen Julia Wilton und Michaela Meise. Ben Lauber (Apparat-Band) war für die exotischeren Instrumente zuständig. Im Zuge dieser sehr heiteren Produktion öffneten sich für uns sprichwörtlich stetig neue Räume und wir waren am Ende in der glücklichen Lage, ein neues Kapitel in unserer zwanzigjährigen Geschichte aufschlagen zu können. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass die beträchtliche Anzahl der Lieder unseres neuen Albums der des Doppelalbums „K.O.O.K.“ aus dem Jahr 1999 entspricht, das seinerseits und -zeit für uns eine Schwelle im eigenen Kosmos markierte. Die 17 Lieder handeln, grob vereinfacht, von zwei miteinander verschränkten Themenkomplexen. Sie handeln von Körpern und Befreiung. Die Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixious hat einmal gesagt, dass Schreiben eine Höllenfahrt sei und der Einstieg dazu der eigene Körper. Sie hatte recht, denn wir existieren nicht alleine, sondern sind an ein Wesen gefesselt, von dem uns Abgründe trennen und dem wir uns kaum verständlich machen können: unseren Körper. Aber vielleicht liegt in dieser Fremdheit, in diesem Eindringen in den Untergrund, in dieser Höllenfahrt, deren Einstieg der Körper ist, auch die Möglichkeit einer Emanzipation von uns selbst. Obwohl unsere 17 neuen Lieder durch immer wiederkehrende Begriffe miteinander verbunden sind, bilden sie keine Erzählung, sie gleichen in der Sammlung eher einem Protokoll. Doch vielleicht können wir, und sie, liebe Hörerinnen und Hörer, davon lernen, wie wir leben wollen. Viel Spaß! Ihre TOCOTRONIC